Es ist immer wieder faszinierend, wenn für zwei oder mehrere grundsätzlich unterschiedliche Erkrankungen eine gemeinsame Ursache gefunden wird, und sich somit für jede dieser Erkrankungen Behandlungsmöglichkeiten auftun, die bei der einen schon geholfen haben, bei der anderen noch nicht versucht wurden und die eigentlich für keine von beiden jemals so gedacht war.
Hmm…. Das klingt verwirrend. Was will ich denn damit sagen?
Manchmal geht die Medizin seltsame Wege. Lassen Sie mich das mal genauer beleuchten. Beginnen wir mit der Epilepsie. Die Epilepsie ist eine Erkrankung, die – grob betrachtet – durch eine überschießende elektrische Aktivität der Nervenzellen verursacht wird. Medikamente gegen die Epilepsie – ebenfalls grob betrachtet – sind solche, die Nervenzellen in ihrer überschießenden Aktivität beruhigen sollen.
Nun helfen jedoch nicht alle vorhandenen Antiepileptika bei allen Patienten. Es gibt unter der Gruppe aller Epilepsiepatienten sogenannte Therapieversager für das eine oder andere Medikament. Bei manchen Patienten versagen mehr oder weniger alle diese Medikamente. Daher bemüht sich die Forschung stets, neue Medikamente auf den Markt zu bringen. Vor vielen Jahren kamen die Medikamente Pregabalin und Gabapentin auf den Markt. Sie waren ursprünglich Hoffnungsträger in der Behandlung der Epilepsie, konnten die in sie gesetzten Erwartungen aber leider nicht erfüllen. Auch heute sind sie nicht die „major player“ oder „game changer“ in der Behandlung von Menschen mit Epilepsie.
Es stellte sich aber glücklicherweise heraus, dass nicht nur Nervenzellen des Gehirns bei der Epilepsie, sondern auch Nervenzellen des peripheren Nervensystems Krankheiten durch eine erhöhte Aktivität verursachen. Verursacht wird die erhöhte Aktivität häufig durch eine Schädigung der Nervenhülle. Dies kann unterschiedliche Ursachen haben und führt häufig zu sogenannten „neuropathischen Schmerzen“ oder das, was wir eine Neuralgie nennen. Krankheiten, die sich mit neuralgischen Schmerzen zeigen gibt es viele – und bei diesen Krankheiten nun helfen die Medikamente Gabapentin und Pregabalin sehr gut. Ihr ursprünglicher Einsatz, nämlich die Behandlung der Epilepsie, wurde zu einem großen Anteil umgewandelt in die Behandlung von Neuralgien wo sie eine sehr segensreiche Bedeutung haben für die Behandlung von Patienten mit quälenden neuralgischen Schmerzen.
Was ist eine Neuralgie?
Wenn man sich eine Verletzung zuzieht, oder sich einen Knochen bricht, dann bezeichnen wir die dabei entstehenden Schmerzen nicht als Neuralgie, sondern als sogenannten „Nociceptoren-Schmerzen“. Der Schmerz entsteht im verletzten Gewebe. Hier helfen dann die üblichen Schmerzmittel, die bei der Neuralgie weniger wirksam sind.
Neuralgie ist ein kurzer, intensiver, plötzlich einschießender Schmerz mit einer hohen Intensität, und er wird manchmal als elektrisierender Schmerz beschrieben. Der Schmerz entsteht, wenn nicht das Gewebe wie bei einer Verletzung, sondern der Nerv selbst verletzt oder geschädigt wird. Wenn es zu einer Verletzung oder Schädigung seiner Hüllen kommt, er gewissermaßen „blank daliegt“ und dann mit unkontrollierten Schmerzimpulsen auf diese Verletzung reagiert.
Welche Schmerzen zählen denn nun zu den Neuralgien?
Neuralgische Schmerzen treten auf bei der Polyneuropathie, der sogenannten Trigeminusneuralgie und von besonderer Bedeutung: Der sogenannte „Hexenschuss“, die Lumboischialgie beim Bandscheibenvorfall im Rücken, ist ebenfalls eine Neuralgie.
Bei diesen Krankheitsbildern war dann der Einsatz eingangs erwähnter Medikamente, die eigentlich für eine ganz andere Erkrankung gedacht waren, eine segensreiche mehr oder weniger Zufallsentdeckung. Gerade die Trigeminusneuralgie und deren Behandlung hat hiervon deutlich profitiert. Dieses für Betroffene schlimme Krankheitsbild mit einschießenden Schmerzen im Kopf- und Gesichtsbereich verursacht so schlimme Schmerzen, dass tatsächlich vor der Entwicklung wirksamer Medikamente und auch operativer Behandlungsmaßnahmen viele der Betroffenen regelrecht durch die Schmerzen in den Suizid getrieben wurden. Gott sei Dank sind diese Zeiten vorbei.
Aber die Zeit weiterer Entwicklungen nicht. Als sich herausstellte, dass die Trigeminusneuralgie häufig durch eine Kompression des Trigeminus-Nerven durch ein kleines Blutgefäß am Austritt des Nerven aus dem Gehirn verursacht wird, da geriet auch eine weitere Erkrankung unter diesen Verdacht.
Gibt es Neuralgien ohne Schmerzen?
Seit langem war bekannt, dass es Menschen gibt, die unter heftigen und nur kurzzeitig anhaltenden Schwindelattacken leiden. Diese Schwindelattacken kommen plötzlich, gehen mit einem heftigen Drehschwindel einher, verschwinden nach Sekunden oder Minuten und können prinzipiell völlig unerwartet und zu jeder Zeit wieder auftreten. Da diese Beschwerden in ihrer Heftigkeit und ihren zeitlichen Qualitäten sehr an die Schmerzen der Trigeminusneuralgie erinnerten, war es eine Frage der Zeit bis zur Entdeckung, dass auch diese Erkrankung durch eine Kompression des Gleichgewichtsnerven am Gehirn durch ein kleines Blutgefäß verursacht wird. Und damit war der Weg frei, auch das Leiden dieser Menschen wirkungsvoll zu behandeln.
Die Krankheit heißt „Vestibularisparoxysmie“. Sie ist quasi eine Neuralgie – ohne Schmerzen – aber mit heftigem Schwindel.
Die Krankheit ist selten. Ich selbst kenne nur eine kleine Zahl von Patienten mit dieser Erkrankung. Aber all diesen Patienten konnte ich durch Gabe von Antineuralgika gut helfen. Die Krankheit muss man kennen, wenn man Patienten mit Schwindel behandelt. Die Diagnose lässt sich ausschließlich aus den Schilderungen des Patienten diagnostizieren. Wenn man sie nicht kennt, dann wird man sie nicht diagnostizieren, und dann erhalten die Patienten keine wirksame Therapie. Und nicht zuletzt: Diese Krankheit wird nicht durch eine übliche Bildgebung des Gehirns erkannt. Das wäre so, als würde man versuchen, ein Bakterium mit einer Lupe zu suchen.